Folgendes Essay habe ich während meines Studiums geschrieben. Als ich auf meinen wegen Covid verspäteten Start für meine Bachelorarbeit in 2020 gewartet habe, habe ich mich viel mit den Rabbit-Holes von Querdenker*innen beschäftigt. Dabei wurde mir bewusst wie wichtig Wissenschaftskommunikation ist.
Hier habe ich mich mit dem Marketing von "Miracle Mineral Supplements" (MMS) beschäftigt und warum ein Bleichmittel so einen Erfolg hatte (und leider noch immer hat).
Die Allgemeinheit würde wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, sich mit einer ätzenden Chemikalie wie einem Bleichmittel Einläufe zu verabreichen oder sie sogar oral zu konsumieren. Die Tatsache, dass Menschen sich vor körperlichen Schäden der Bleiche fürchten und dennoch einem als "Wunderheilmittel" beworbenen Produkt namens "Miracle Mineral Supplement" (MMS) vertrauen, wiederspricht dem gesunden Menschenverstand.[1] Das durch Jim Humble bekannt gewordene MMS soll sowohl Krebs, Diabetes, Autismus, Malaria und noch vieles mehr heilen können.
MMS bezeichnet eine Chlordioxid-Lösung, welche als giftig, ätzend und umweltschädlich gilt.[2] Chlordioxid wird vorwiegend zum Bleichen von Papier oder als Desinfektionsmittel verwendet. Ebenso dient es zur oberflächlichen Desinfektion im Mund und Rachenraum und industriell auch zur Desinfektion von Trinkwasser. Natürlich gilt bei Chlordioxid wie bei jeder anderen Chemikalie auch, dass erst durch eine bestimmte Dosis eine Chemikalie zu einem Gift wird. Für solche Anwendungen von Chemikalien wie Chloridoxid existieren Grenzwerte. Diese liegen zum Beispiel bei der Desinfektion von Trinkwasser bei 0.2 mg Chlordioxid pro Liter Wasser.[3] In den Büchern von Jim Humble und seinen Anhängern werden aber Konzentrationen für den täglichen Konsum empfohlen, die diesen Grenzwert um das 100 bis 1000-fache übersteigen: Im Buch „Heilen mit MMS“[4] wird beispielsweise eine Einzeldosis von 30 mg empfohlen.[4,5,6] Diese Konzentrationen sind bereits in der Lage, Kleidung zu bleichen und Fasern zu zerstören; dasselbe geschieht auch mit organischem Gewebe.[7]
Wieso haben so viele Menschen ihren rationalen Menschenverstand vernachlässigt und angefangen einem angeblichen „Wunderallheilmittel“ zu vertrauen? Um diese Frage zu beantworten habe ich mir das Marketing und die Argumentationen der MMS -„Propheten“ genauer angeschaut und anhand von Rationalitätsfallen analysiert, warum Menschen angefangen haben, an die Wirkung von MMS zu glauben. Dementsprechend werde ich im Folgenden aspektorientiert auf verschiedene Merkmale von Rationalitätsfallen eingehen, um die Prominenz von Chlordioxid erklären zu können. Als Rationalitätsfallen bezeichnet man das Verhalten, eine für sich logische und rationale Entscheidung zu treffen, diese Entscheidung aber von der Allgemeinheit als irrational angesehen wird.[8]
Die erste Rationalitätsfalle über die ich schreibe ist der sogenannte Bezugsrahmen (framing). Das Phänomen des framing beeinflusst die Entscheidungsfindung unbewusst, je nachdem in welchem Bezugsrahmen (frame) der Sachverhalt präsentiert wird.[8] Das Marketing von MMS stach mir besonders mit der sehr großzügigen Verwendung von akademischen Promotionstiteln ins Auge. So hält der selbsternannte Biophysiker „Dr.“[4,5] Andreas Kalcker, der sich selbst mittels MMS von einer Arthritis geheilt haben solle, zahlreiche Vorträge mit den MMS-Erfinder Humble. Ebenso hat er das Buch „Heilung ist möglich“[4,5,6] veröffentlicht, welches von der Wirksamkeit von MMS handelt.[4,5,6] Der Doktortitel steht in Anführungszeichen, da keine Information über diesen in Erfahrung gebracht werden konnte. Akademische Titel wie ein Doktortitel sind für viele ein Zeichen für Weisheit und Expertise in einem Fachgebiet. Deswegen werden den Aussagen eines promovierten Akademikers eher geglaubt, als den gleichen Aussagen von Personen ohne Forschungsbezug. Dies ist der Bezugsrahmen, der durch vermeintliche akademische Titel der Vertreter geschaffen wird.
Der Glaube an die Wirksamkeit von MMS wird ebenso durch die Rationalitätsfalle des Bezugsrahmens erklärt. Humble, Kalcker und deren Anhänger sehen MMS als Heilmittel für jede Krankheit, die durch einen Mangel an Sauerstoff im Blut hervorgerufen werde. Um diese „Sauerstoffarmut“ auszugleichen müsse nun mittels Oxidation (Abgabe von Elektronen) durch Chlordioxid dem Körper Sauerstoff zugeführt werden. MMS beziehungsweise Chlordioxid wirke dabei selektiv und greife nur die ungesunden Zellen im Körper an, nicht aber die gesunden, körpereigenen Zellen. Hierfür ist der Begriff des Redoxpotentials von Bedeutung.[9]
Das Redoxpotential bezeichnet die entstehende Spannung eines Stoffes oder Ions bei einer Oxidation. Meist findet dies in einer Standardwasserstoffelektrode bei einem pH-Wert von sieben statt, also in neutraler Umgebung.[10]
Redoxpotenziale einer Standartwasserstoffelektrode.[11]
Aus der Tabelle geht hervor, dass das Redoxpotential von Chlordioxid (+709 mV) niedriger ist als das von beispielsweise Sauerstoff (+820 mV).[11] Da menschliche Zellen problemlos die Oxidation von Sauerstoff während des Atmens bewältigen, soll dieses auch für Stoffe mit schwächeren Redoxpotentialen gelten. Dies klingt für nicht Naturwissenschaftler*innen wahrscheinlich sehr plausibel, denn wenn der menschliche Körper etwas wie unseren Sauerstoff ohne Probleme verträgt, dürfte das wesentlich schwächere MMS eine selektive Wirkung im Körper zeigen und nur den „schlechten“, nicht menschlichen Zellen schaden.
Gerade der Gegenstand, dass eine solche Begründung für viele plausibel klingt, macht diese Rationalitätsfalle so gefährlich, denn es ist schlichtweg falsch, dem Körper an sich ein Redoxpotential zuzuordnen! Durch den Umstand, dass ca. 21% unserer Luft aus Sauerstoff besteht, haben sich Enzyme und Organismen perfekt an diesen Oxidator angepasst. Dies gilt nicht für das Chlordioxid.
Die folgende Tabelle zeigt Redoxpotentiale einer beispielhaften Auswahl verschiedener Enzyme: z. B. das Potenzial von Zuckern wie Glucose; von Lactaten, also Ester und Salze der Milchsäure; sowie Adenosintriphosphat (ATP), dem Energieträger in unserem Körper. All diese Stoffe kann Chlordioxid beziehungsweise MMS oxidieren, denn die Redoxpotentiale liegen bei allen Stoffen unter +709 mV.[12] Die Behauptung, MMS wirke im Körper selektiv nur gegen die schlechten Zellen, ist schlichtweg hinfällig und unwissenschaftlich. Chlordioxid oxidiert alle Zellen im Körper, sowohl die schlechten, die eine Krankheit auslösen könnten, als auch die, die notwendig zum Überleben sind. Chlordioxid oxidiert die erste Zelle oder das erste Molekül, auf die es trifft.
Die Wirkung von MMS durch Redoxpotentiale zu begründen, passt auch in die Rationalitätsfalle des Wahrnehmungsankers (anchoring). Hier orientieren sich Menschen bei einem ihnen nicht bekannten Gegenstand, an einem Ausgangspunkt in ihrer Wahrnehmung. Dieser Ausgangspunkt dient im Weiteren als „Anker“ für zukünftige Betrachtungen und Bewertungen.[8] Nun äußert sich die Stärke des Redoxpotentials in Zahlenwerten einer Spannung, anhand derer die Toxizität einer Chemikalie bewertet wird.
Redoxpotenziale von menschlichen Enzymen.[12]
Die Nebenwirkungen der ständigen Verätzung durch den regelmäßigen Konsum von MMS werden irgendwann durch z. B. Ausscheidungen der Darmschleimhaut, Durchfall und Übelkeit sichtbar. Allerdings werden diese Nebenwirkungen von den MMS-Befürwortern als heilende Wirkungen abgetan! So werden die Opfer dazu verleitet, MMS trotz gravierender Nebenwirkungen weiter einzunehmen, denn zumeist setzt die MMS Therapie dort an, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt.[4,5,6,9,13] Hier fällt man in die Rationalitätsfalle der Selektiven Wahrnehmung. Sie bezeichnet den Widerspruch zwischen dem, was wir bewusst registrieren und dem, was unsere Sinne wahrnehmen. Die menschliche kognitive Konsonanz lässt uns Zusammenhänge so verstehen, dass sie mit unseren Bewertungen, Meinungen und Kenntnissen im Einklang stehen. Hierdurch ergeben sich drei Illusionen: die Illusion der Überlegenheit, der Gewissheit und des Optimismus'.[8]
Durch die entstehende Hoffnung, dass es noch eine weitere Möglichkeit geben könnte, unheilbare Krankheiten zu heilen, entsteht ein Optimismus und eine Überlegenheit derer gegenüber, die auf die Schulmedizin vertrauen und MMS nicht zu sich nehmen. Durch die zahlreichen Erklärungen und Erfahrung von Menschen mit vermeintlich hohen akademischen Graden, wird den Menschen eine Gewissheit über die Funktion und der „naturwissenschaftlichen“ Wirkung vermittelt.
Eine neue vielleicht letzte Möglichkeit für eine durch die Schulmedizin nicht heilbare oder schwer zu medikamentierende Krankheit, führt zu einer Befangenheit der Opfer bezüglich MMS-Behandlungen, einer Verstrickung. Sie beschreibt das Verhalten, sich durch in der Vergangenheit erbrachte Opfer dazu verleiten zu lassen, weitere Risiken oder Maßnahmen zu erwägen und tätigen.[8] Gerade diese Rationalitätsfalle zeigt, wie stark bewusste und unbewusste Emotionen bei den Opfern von MMS ausgenutzt werden. Man nutzt deren wahrscheinlich schwere Krankheitsgeschichte für eine Behandlung mit einem Gift, das mit Buch-Titeln wie „Heilung ist möglich“[9] oder „Heilen mit MMS“[4,5,6] wirbt, aber keinen medizinischen oder rechtlichen Wirkungsnachweis besitzt. Stattdessen zerstört es langfristig den Körper.
Die Rationalitätsfallen erklären somit, warum einer gefährlichen Behandlung mit MMS so viel Vertrauen geschenkt wird. Sie zeigen, wie ein sorgfältiges Marketing von falschen Wahrheiten sowie unwissenschaftliche, wissenschaftlich klingende Erklärungen von vermeintlichen Akademikern zur Folge hat, dass rational denkende Menschen ein Bleichmittel täglich konsumieren. Hierfür habe ich angenommen, dass Menschen, die normalerweise eine medizinische Entscheidung für ihren Körper treffen, diese rational treffen. Besonders erschreckend finde ich diese Thematik, wenn man die Entscheidung über eine solche „Therapie“ nicht für sich selbst und seinen eigenen Körper trifft, sondern für beispielsweise seine Kinder. MMS-Facebook-Gruppen zeigen zahlreiche Fälle von Eltern, die ihren z. B. autistischen Kindern regelmäßig hochdosierte MMS-Einläufe verabreichen.[13] Tappt man in die Rationalitätsfallen einer solchen Behandlung, geht man wahrscheinlich nicht an seiner ursprünglichen Krankheit zu Grunde, sondern an der Behandlung selbst. Im schlimmsten Fall zieht man noch andere in die Fallen mit hinein.
Von Helen Kemmler
Quellen:
[1] https://cdn.mms-seminar.com/wp-content/uploads/2015/02/SogiftigistMMS.jpg?5b7bcc, (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[2] http://gestis.itrust.de/nxt/gateway.dll/gestis_de/000000.xml?f=templates$fn=default.htm$vid=gestisdeu:sdbdeu$3.0, (28.03.2020, 16:25 Uhr).
[3] https://www.kadotec.de/shop/trinkwasser-desinfektion/easydes-dosiermittel-zur-trinkwasserdesinfektion/, (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[4] https://cdn.mms-seminar.com/wp-content/uploads/2015/02/SogiftigistMMS.jpg?5b7bcc, (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[5] https://mms-seminar.com/1-3-wie-wirkt-mms/, (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[6] https://mms-seminar.com/1-4-risiken-und-nebenwirkungen/, (27.03.2020, 20:08 Uhr).
[7] Nishikiori et al. 2008, J Dent. 26(12):993-8: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1881974, (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[8] Bühring-Uhle, C./Eidenmüller, H./Nelle, A., Verhandlungsmanagement. Analyse, Werkzeuge, Strategien, München, 2009, S. 38-49.
[9] Kalcker, A. L., CDS/MMS. Heilung ist möglich, Kandern, 2005.
[10] https://www.researchgate.net/figure/Standard-reduction-potentials-of-selected-redox-couples_tbl1_265692329 (26.03.2020, 13:06 Uhr).
[11] E. Riedel, C. Janiak, Anorganische Chemie, Berlin, 2005, S. 212-214.
[12] http://book.bionumbers.org/what-is-the-redox-potential-of-a-cell/, (27.03.2020, 20:08 Uhr).
[13] Interview mit Kalcker, A.: https://www.youtube.com/watch?v=tTIbQuOoCZA, (26.03.2020, 14:00 Uhr).