Ein Ade an die Promotion

Das folgende Essay ist meine Antwort auf die mir sehr bekannte Frage nach der Promotion.

„Jetzt machst du mit deinem Doktor weiter, oder?“ „Und, promovierst du auch in der Arbeitsgruppe, in der du deine Masterarbeit geschrieben hast?“ „Aber was macht man denn ohne einen Doktor in Chemie?“ „Kann man ohne Doktor überhaupt 'was mit dem Master anfangen?“ „Für den Titel kann man sich doch auch mal vier Jahre zusammenreißen.“ 

Das sind nur einige der Fragen und Aussagen, die ich in den letzten Jahren meines Masters und nach meinem Abschluss im Fach Chemie vor drei Monaten gehört habe. Alle reden von einer Promotion, denken sie wüssten es besser. „Dass der Master in Chemie ohne eine Promotion nichts wert ist“, heißt es im akademischen Volksmund. Mit Blick auf die Statistiken wird der Promotionsdruck nicht unbedingt weniger: Rund 85 % der Chemie Absolvent*innen mit einem Masterabschluss schließen eine Promotion an.[1]

 

Die Promotion bezeichnet die Phase zum Erwerb des Doktortitels. In vielen Studiengängen kann man die Promotion an den Master anschließen, wenn man eine Laufbahn in der Forschung anstrebt. In einer Disziplin wie der Chemie ist der Doktor allerdings eher obligatorisch und geht nicht unbedingt mit einer Laufbahn in der Forschung oder dem Streben nach einer Professur einher. Der Doktortitel wird vielmehr in vielen Jobs der chemischen Industrie als Voraussetzung benötigt.

Aber was, wenn man seine Einstellung zur Promotion in den letzten Jahren des Masters verändert hat? Wenn man sich doch noch umorientieren möchte und vier bis fünf Jahre plötzlich ziemlich lang wirken? Ich habe sieben Jahre studiert, zwei Jahre auf Lehramt und fünf Jahre Chemie. Das ist für eine Mitte 20-Jährige eine ganz schön lange Zeit. Addiert man darauf noch mindestens vier Jahre Promotion, ist man nicht nur bei über zehn Jahren Ausbildung, sondern meine Zwanziger sind dann auch vorbei. 

Vier bis fünf Jahre. Das ist gemessen auf das ganze Leben vielleicht keine sehr lange Zeit, aber jeder, der Mal mehrere Minuten versucht hat, im Liegestütz auszuharren, weiß, dass es ein feiner Unterschied ist, ob man auf eine Phase des Lebens zurückblickt, sie gerade durchlebt, oder sie noch bevorsteht. 

 

Früher dachte ich, die Promotion ist die Zeit, in der man sich ausprobieren, freidenken, ja über sich hinauswachsen kann. Alles andere rückt in den Hintergrund, weil man währenddessen eine Festanstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiter*in genießt, welche für die Einstufung nach TV-L E13 mit über 4.000 € brutto gut vergütet wäre. In der Chemie werden die meisten Promovierenden aber mit 50 %- oder 67 %-Stellen angestellt.[2,3] Die prozentuale Höhe der Teilzeitanstellung hängt davon ab, wie viel Promovierende auch ohne Promotion in der freien Wirtschaft verdienen würden. Würde er oder sie auch einen hochdotierten Job ohne Doktortitel bekommen, wird die Promotion auch besser bezahlt. Das ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geregelt und i.d.R. wird sich bei der Erstellung des Arbeitsvertrages auch daran orientiert.[4,5] Auch wenn nach dieser Vorgabe eine 67 %-Anstellung für Promovierende in der Chemie die Regel ist,[5] kenne ich fast nur Promovierende in der Chemie, die mit einer 50 %-Stelle angestellt sind. Schließlich promovieren fast alle Masterabsolvent*Innen, da ist der Wettbewerb zwischen Personen mit Doktortitel und ohne gar nicht vorhanden. Man muss in der Chemie keinen finanziellen Anreiz schaffen, einen Doktortitel erwerben zu wollen, es machen sowieso alle. Man entscheidet sich in der Chemie also meistens, die nächsten vier bis fünf Jahre von ungefähr 1.400 € netto zu leben.[6] Das ist wenig Geld, erst recht, wenn man in dieser Zeit eine Familie gründet oder gründen möchte, und man bedenkt, dass man schon einen Masterabschluss besitzt. 

 

Außerdem hat man während seiner Promotion meist nicht nur einen Vertrag, der sowohl das Promotionsverhältnis bzw. das Promotionsstudium und die wissenschaftliche Anstellung klärt, sondern eben mindestens diese zwei. Diese Verträge können unterschiedliche Befristungen beinhalten und sind nicht miteinander gekoppelt. Während die Promotionsvereinbarung meist zunächst auf vier Jahre befristet ist und beliebig oft verlängert werden kann, richtet sich die monetär vergütete wissenschaftliche Anstellung nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG).[7] Durch das WissZeitVG können junge Wissenschaftler*innen maximal 12 Jahre mit Bezahlung in der Forschung bleiben: sechs Jahre als Promovierende und maximal sechs Jahre als Postdoc.[8] Der Grund für das WissZeitVG ist, dass „[i]nsbesondere […] ohne eine durch Befristung begünstigte Rotation […] für nachrückende Generationen der Zugang zu wissenschaftlichen Tätigkeiten erheblich erschwert [ist]“.[7]

Das WissZeitVG hat aber vor allem zur Folge, dass man nur als Professor*in unbefristet in der Forschung Fuß fassen kann. Danach gibt es nur noch die Möglichkeit, einen der wenigen Lehrstühle an der Universität zu erhalten, wenn man in der Forschung bleiben möchte. Es existieren auch wenige unbefristete Senior Scientist-Stellen an Universitäten. Allerdings sind das so wenige, dass diese hier nicht ins Gewicht fallen.

Obwohl der Erwerb des Doktortitels also eigentlich die erste Stufe in der Professor*innen-Laufbahn darstellt, ist für fast jede*n Doktorand*in klar, dass die Laufbahn nach dem Doktor nicht weiter begangen werden kann.

Oft liest man, dass man für eine Promotion drei oder dreieinhalb Jahre nach Regelstudienzeit benötigt.[7,9,10] Ebenso oft richten sich die ersten Arbeitsverträge auch danach und werden auf drei oder dreieinhalb Jahre befristet. Real übertrifft die Zeitspanne zum Anfertigen einer Dissertation aber diesen Richtwert um ein, eher zwei Jahre.[10]

Leider kenne ich viele Doktorand*innen, die teilweise auf Arbeitslosengeld ihre Dissertation nach der Erarbeitungsphase im Labor anfertigen mussten, da sie keine Verlängerung mehr bekommen haben. Da zumeist noch ein Jahr zwischen dem letzten Labortag und der Vergabe des Doktortitels vergehen, sind sie dann betitelt mit einem Dr. mit Anfang 30 in das Bürgergeld gerutscht. 

 

Aber wenn man sich selbst verwirklichen kann in dieser Zeit, dann kann man doch über die finanziellen Aspekte hinwegschauen, oder? Das könnte ich, aber das war erst der Anfang: Publikationsdruck ist etwas, was jedem*r Doktorand*In bekannt sein dürfte. Um am Ende seine Dissertation anfertigen zu können, braucht man natürlich auch Ergebnisse, über die man schreiben kann. Diese Ergebnisse werden i. d. R. aber nicht das erste Mal in der Dissertation veröffentlicht, sondern in Publikationen. 

Für die Anfertigung der Dissertation existieren üblicherweise zwei Arten: kumulativ und monographisch. Kumulativ bedeutet, dass bei mindestens zwei veröffentlichten Publikationen während der Promotion, diese zusammengefasst mit einer Einleitung und einer Zusammenfassung als Dissertation eingereicht werden können. Die Alternative dazu ist die Monografie, welche ein zusammenhängender Text ist.[11]

Die kumulative Form ist vor allem in den Naturwissenschaften verbreitet. Die Publikationen hierfür werden in Journalen publiziert, bei denen dies je nach Journal Impact Factor (JIF) und durchlaufenes Peer Review schwerer oder leichter ist.[12]

Es gibt Journale mit hohen JIFs, wie die Science, Nature oder die Angewandte Chemie, die ein hohes Ansehen genießen.[12] Dasselbe gilt für die Forschung und die Ergebnisse, wenn man in Journalen mit hohem JIF publizieren durfte. Leider gibt es keine Möglichkeit, negative Ergebnisse, also ein „das alles hat nicht funktioniert“ zu publizieren. Wenn man als Doktorand*in promoviert, ist man darauf angewiesen, dass man Ergebnisse erzielt, dass Dinge funktionieren, dass man publizieren kann. Das eigene wissenschaftliche Prestige hängt davon ab, dass man Ergebnisse erzielt und zum Schluss auch, worin man sie publiziert. Ansonsten steht man am Ende seines befristeten Vertrages vor einem Haufen durchgestrichener Reaktionspfeile (zumindest in der präparativen Chemie) und die Wahrscheinlichkeit einer Vertragsverlängerung geht gegen null. 

Dieser Zusammenhang wird durch „publish or perish“ auf den Punkt gebracht. [13] Entweder man publiziert, oder man verschwindet bzw. die akademische Laufbahn stirbt. Das hat einen riesigen Publikationsdruck für die Doktorand*innen zur Folge, der nicht selten zu Überlastung, Überstunden und Erschöpfung führt und das hierarchische Verhältnis mit starkem Ausbeutungspotenzial zwischen dem*r Doktorand*in und Professor*in unterstreicht. Auch kann „publish or perish“ eine schlechtere Forschung zur Folge haben. Ergebnisse können und wurden bereits in der Vergangenheit verfälscht, falsch kontextualisiert und verdreht, um sie im Wunschjournal veröffentlichen zu können. [13,14] Das greift den aufklärerischen Grundsatz sowie die Unantastbarkeit der Wissenschaft an und trübt leider auch meine Meinung darüber, wie Wissenschaft heute betrieben wird.

 

Ich habe mit angesehen, wie sich Doktorand*innen während ihrer Promotion verändert haben. Es wirkte teilweise so, als würde die Promotion sie von innen heraus zerfressen: Von Promovierenden, die von Prokrastination und Erschöpfung geprägt, immer ausgedehntere Schreibphasen für die Publikationen benötigten; Doktorand*innen, die sich immer weniger um sich selbst gekümmert haben und in von Melancholie geprägte „Alles-Egal“-Einstellungen gemündet sind. Viele dieser Zustände sind durch zu viele Überstunden in Laboren, wenig Wertschätzung der eigenen Arbeit, Ergebnisarmut und auch finanzielle Nöte entstanden. Es gibt nicht ohne Grund das Hashtag #ichbinHanna über das schlechte Erfahrungen über die Promotion von Doktorand*innen geteilt werden. [15]

 

Die Promotion wird oft nicht mehr der Liebe zur Forschung oder der Faszination für das Thema wegen begonnen, sondern viel mehr, um am Ende den Titel erwerben zu können. Der Weg ist nicht mehr das Ziel. In einer Disziplin wie der Chemie, ist das aber bei den hohen Promotionsquoten wohl schon lange nicht mehr der Fall.

Ich persönlich liebe die Chemie und die Wissenschaft. Allerdings ist für mich die Promotion geprägt von Publikationsdruck, mündend in „publish or perish“, Überstunden und zuletzt schlechter Bezahlung. Sich für die Promotion zu entscheiden, zieht für mich einen zu großen Rattenschwanz nach sich, weshalb ich hier lieber von dem Weg der chemischen „Mainstream“ Laufbahn abweiche und nicht promoviere. Ich hoffe, dass es auch noch andere Wege gibt, der Wissenschaft nah zu bleiben, ohne die ausführende Instanz in der Forschung zu sein.

 

Von Helen Kemmler


Quellen:

 

[1]       https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/promotion/promotionsquote-im-fach-chemie-am-hoechsten-5316#:~:text=Demnach%20hat%20die%20Chemie%20eine,(69%20beziehungsweise%2061%20Prozent). (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[2]       https://www.academics.de/ratgeber/promotionsstelle#:~:text= Wer%20eine%20Promotionsstelle%20hat%2C%20wird,(TV%2DL)%20bezahlt.

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[3]       https://oeffentlicher-dienst.info/c/t/rechner/tvoed/vka?id=tvoed-vka-2022&matrix=1

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[4]       https://www.dfg.de/formulare/55_02/

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[5]       https://www.dfg.de/formulare/55_02/55_02_de.pdf

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[6]       https://www.brutto-netto-rechner.info

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[7]       https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/wissenschaftlicher-nachwuchs/wissenschaftszeitvertragsgesetz/wissenschaftszeitvertragsgesetz_node.html

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[8]       https://www.academics.de/ratgeber/wisszeitvg-wissenschaftszeitvertragsgesetz

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[9]       https://www.academics.de/ratgeber/promotion-dauer

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[10]     https://www.bcp.fu-berlin.de/ graduiertenzentrum/promovierende/promotionsablauf/05_bearbeitung/index.html

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[11]     https://www.academics.de/ratgeber/kumulative-dissertation

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[12]     L. Waltman, V. A. Traag, F1000 Research 2021, 9, 366.

[13]     https://www.swr.de/swr2/wissen/publish-or-perish-publizieren-in-der-wissenschaft-104.html

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

[14]     https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/postdoc/knapp-zwoelf-ueberstunden-pro-woche-sind-ueblich-1455

(zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)  

[15]     https://www.spiegel.de/panorama/bildung/ein-jahr-ichbinhanna-warum-junge-forschende-ins-ausland-oder-in-andere-jobs-ziehen-a-0713081c-15ce-4b20-b319-79b9148e06f5

            (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023)

 


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